Interview with Roger Behrens

Krenn: Welche Bedeutung kann der Begriff der Kulturindustrie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer heute noch entwickeln?

Behrens: Politisch sozialisiert in den 1980er Jahren, habe ich nach der Schule angefangen, die Dialektik der Aufklärung zu lesen; und der Abschnitt über Kulturindustrie, der sich zentral in diesem Buch von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer findet, war für mich nachgerade ein Zugang zur kritischen Theorie. Ich habe dann um 1990 begonnen, Philosophie zu studieren, und Kulturindustrie, Begriff wie Problem, war von Anfang an eine Art Leitthema. Konsequent habe ich mich auch in meiner Magisterarbeit mit dem Kulturindustrietheorem auseinandergesetzt. Der Gegenstand dieser Beschäftigung mit Kulturindustrie war Musik, was im Kontext der Debatten in den 1990er Jahren nachvollziehbar war: mit expliziten Bezügen zur Popmusik ging es damals – zumal einer so genannten Kulturlinken – um die Möglichkeit beziehungsweise Unmöglichkeit von Subversion, um Kommerzialisierung und den „Ausverkauf“ von Subversion etc. Das heißt es ging eigentlich auch um die Frage, was eben nicht Kulturindustrie ist; dass mithin der Film, das Kino insgesamt schlechterdings Kulturindustrie ist, schien in den 1990ern eine ausgemachte Sache zu sein. Adorno und Horkheimer hatten ja selbst die Kritik der Kulturindustrie am Kino und den Produktionen der großen Hollywood-Filmstudios expliziert: sie waren Anfang der 1940er Jahre vor Ort, lebten in Kalifornien im Exil. – 1944 erscheint dann die „Dialektik der Aufklärung“ in einer mehr internen Ausgabe des Instituts für Sozialforschung, 1947 wird das Buch in einer kleinen Auflage von 3000 Exemplaren im Amsterdamer Querido Verlag veröffentlicht.

Kino und Film bilden jedenfalls zunächst den Hauptgegenstand, wobei freilich immer auch schon die Musik wichtig war, gerade für Adorno. Der Philosoph und Soziologe war ja zunächst in Wien, um dort Klavier und Komposition zu studieren, und schließlich hatte sich Adorno schon damals auch als Musiktheoretiker einen Namen gemacht. Er hat eine große Nähe zur so genannten zweiten Wiener Schule, studierte in den 1920er Jahren bei Alban Berg. Gleichwohl hat auch in Hollywood Musik, haben also die zweite Wiener Schule, Arnold Schönberg, darüberhinaus schließlich Igor Strawinsky eine große Bedeutung – und Adorno beleuchtet das in seiner ebenfalls in den 1940ern verfassten Studie „Philosophie der Neuen Musik“. Doch erst einmal steht der Film im Vordergrund. Ilja Ehrenburg nennt Anfang der 1930er Hollywood eine Traumfabrik. Das ist eigentlich eine Karikatur. Ähnlich interpretiert auch Detlev Claussen den Begriff Kulturindustrie: er sagt, Kulturindustrie sei ironisch gemeint. Sicher gehört jedenfalls zum Begriff Kulturindustrie, dass er nicht zu ernst genommen werden sollte. Tatsächlich ist der Begriff zunächst einmal ein analytischer Begriff, der einen ganz bestimmten Umgang mit dem Gegenstand Kultur beschreibt – und das am Beispiel des Films verdeutlicht.

Für mich hat sich das – wie gesagt – Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger anders dargestellt. Mit der Verteidigung bestimmter Musik als „nicht kulturindustriell“, also subversiv oder dissident, oder einfach nur als „gut“ beziehungsweise „besser“ als das, was „die anderen“ hören, ging es auch um die Verteidigung der eigenen – in meinem Fall – post-kleinbürgerlich-proletarischen – Identität. Aber es ging auch um mehr als Musik, nämlich um gesellschaftskritische Praxis; was immer auch damals damit gemeint war – in Hamburg etwa: Hafenstraße, sowieso Antifaschismus etc. –, eine solche Praxis brauchte wiederum auch eine Musik, einen Soundtrack. Entscheidend mithin: Die Kritik der Kulturindustrie ist vor allem Gesellschaftskritik, und nicht etwa, wie es heute akademisch kanonisiert ist, „Kulturkritik“. Das war gerade in Hinblick auf Musik für mich wichtig. Freilich entsprach das nicht den Ansichten der damals sich konsolidierenden Poplinken.

Überdies hat mich in der Auseinandersetzung mit dem Kulturindustrietheorem immer die Möglichkeit der Aktualisierung (der Kritik) interessiert und nicht irgendwelche Fehleinschätzungen Adornos, auf die dann gerne verwiesen wird, um die Kritik der Kulturindustrie und damit eigentlich Gesellschaftskritik überhaupt zu diskreditieren. Beliebt ist ja der Hinweis, dass Adorno vom jazz nichts verstanden habe. Zweifellos gibt es hier schlimme Formulierungen, die wenig mit kritischer Theorie zu tun haben. Aber es gibt auch sehr genaue Beobachtungen über die Veränderungen des Subjekts. Formulierungen wie „Exzentrik Clowns“ interpretiere ich eben eher subjektkritisch. Das ist auch ein ganz zentraler Topos in Adornos Kritik der Kulturindustrie.

Von dem, was sich zudem seit den 1960er Jahren an Popmusik-Kultur entwickelt, hat Adorno, der 1969 stirbt, ohnehin kaum etwas mitbekommen. In den 1970ern kommt dann der Punk, in den 1980ern Hip Hop, Techno, die neunziger Jahre sich schließlich von musikalischen Subkulturen überwuchert. In Bezug auf diese Entwicklungen interessiert mich eben die Aktualisierung der Kulturindustriekritik. Und das insbesondere vor dem Hintergrund meiner eigenen Kindheit und Jugend im proletarisch-post-kleinbürgerlichen Stadtrand-Milieu: Louis Armstrong, Mein Leben in New Orleans und die Bee Gees, ansonsten Schlagermusik, Regenbogen-Illustrierte – das gab es bei uns. Ich gehöre ja zur ersten Generation, die vollständig kulturindustriell sozialisiert wurde: ohne Außen, ohne Nischen. Genau das, was hier als Lifestyle inszeniert wurde, ist ja Kulturindustrie. Dass es hier doch irgendetwas Subversives, vielleicht sogar Emanzipatorisches geben muss, habe ich mir nicht ausreden lassen wollen. Gleichwohl hatte für mich das, was Adorno und Horkheimer im Kulturindustrieabschnitt in der Dialektik der Aufklärung formulierten, auch etwas sehr Prognostisches: als würde sich jetzt erst – Stichwort: Privatisierung des Medienverbunds – zeigen, was die beiden in den vierziger Jahren in Kalifornien bloß skizziert haben …

Insofern habe ich mehr und mehr angefangen, den Kulturindustriebegriff in zwei Richtungen zu befragen:

Erstens: Was hat Kulturindustrie eigentlich für Adorno und Horkheimer in den vierziger Jahren bedeutet, was meinten sie mit dem Begriff, was wollten sie kenntlich machen beziehungsweise aufklären? Und inwiefern unterscheidet sich das, auch vom Gegenstand her, zu den Entwicklungen seit den fünfziger, vor allem dann seit den sechziger Jahren bis heute; ist der Begriff überhaupt heute noch aktuell?

Zweitens ist die Rezeptionsgeschichte des Begriffs mit dem Begriff selbst rückgekoppelt: Wer rezipiert Konzept und Theorie der Kulturindustrie wann und wie, wann wurde der Begriff beziehungsweise der den Begriff schon im Titel tragende Abschnitt der Dialektik der Aufklärung in andere Sprachen übersetzt? Bemerkenswert ist ja etwa, dass schon bevor die Dialektik der Aufklärung ins Englische übersetzt wurde und wohl auch unabhängig von der Dialektik der Aufklärung in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten in entsprechenden Diskursen von Culture Industry die Rede ist. Bei diesem Punkt spielt zudem noch eine Rolle, welche – akademischen, feuilletonistischen – Debatten wiederum mit der Rezeption des Kulturindustriebegriffs verknüpft sind, wie zum Beispiel eine zunächst weitgehend literaturwissenschaftliche Rezeption langsam in die allgemeine Kunst- und Ästhetik-Diskussionen einbricht und schließlich „kultur- und medienwissenschaftlich“ kanonisiert wird.

Verschoben hat sich damit der kritische Gehalt des Kulturindustriekonzepts: Es geht eben nicht mehr um radikale Gesellschaftskritik, sondern um eine mit Radikalität kokettierende Kulturkritik. Dagegen ist festzuhalten: Kulturindustrie ist systematisch bezogen auf das theoretische Fundament der kritischen Theorie, die von der Kritik der politischen Ökonomie von Marx ausgeht; kritische Theorie, auch kritische Theorie der Kulturindustrie ist dabei wesentlich Herrschaftskritik – es geht um soziale Verhältnisse, die in die Konstitution der Subjekte hineinreichen. Das heißt moniert wird mit dem Begriff Kulturindustrie nicht nur einfach die Verteilung irgendwelcher Güter, die für teures Geld verkauft werden, sondern um eine strukturelle Logik der Repression. Das heißt auch, dass Kulturindustrie als eine erweiterte Form von Ideologie verstanden werden muss, ebenso wie dann die Kritik der Kulturindustrie auch als Ideologiekritik aktualisiert werden muss: Die „Aufklärung als Massenbetrug“ – so lautet ja der Untertitel des Kulturindustrieabschnitts in der Dialektik der Aufklärung – ist der Betrug um das Glück kollektiver unreglementierter Erfahrung. Verdeckt wird das durch ein falsches Glücksversprechen, das mit dem zusammenhängt, was Marx den Fetischcharakter der Ware nannte. Zunächst verwandelt Kulturindustrie Kultur in Waren, darüberhinaus – und das ist das Entscheidende – wird nun aber „Kultur“ als Ware industriell hergestellt. Meine Kurzformel zur Definition der Kulturindustrie lautet deshalb: „Kultur wird zur Ware.“

Krenn: Hier möchte ich kurz einmal einhaken. Vielleicht versuchen wir das Konzept Kulturindustrie weiter auf die bildende Kunst zu beziehen, auch wenn der Begriff wesentlich mehr umfasst. Inwieweit beinhaltet der Begriff auch die Produktion von Kunst und die Bedingungen der Produktion von Kunst. Konzeptkunst, Performancekunst, sozial engagierte oder partizipatorische Kunst verkaufen ja kein Objekt im klassischen Sinne, sondern vielmehr eine Idee, eine Aktion innerhalb eines bestimmten Zeitraums, einen Kommunikationsraum oder die Möglichkeit als BetrachterIn aktiv an der Entstehung eines Kunstwerkes teilzunehmen. Geht es bei Adornos Verständnis von der gesellschaftlichen Funktion von Musik bzw. Kunst als Ware nur um das Werk, das warenförmig am Musik- bzw. Kunstmarkt zirkuliert, oder soll der Begriff der Kulturindustrie auch auf die anderen eben genannten Bereiche ausgedehnt werden?

Behrens: Es bleibt bei Adorno selbst ein wenig unklar, wie er diesen Zusammenhang von Kultur, Ware und Produktion herleitet. Ich erkläre das für mich so: Marx spricht im ersten Band vom Kapital im Abschnitt über den Fetischcharakter der Ware davon, dass die Produktionsverhältnisse dem Arbeiter als Naturverhältnis erscheinen, ebenso wie die Produkte der Arbeit als Naturprodukte – obwohl der Arbeiter sie in einem ganz und gar gesellschaftlichen, also keineswegs irgendwie „natürlichen“ Verhältnis hergestellt hat; auch die Produktionsverhältnisse sind soziale Verhältnisse.

Was heißt Fetischcharakter? Ich spreche einem Gegenstand eine Macht zu, die ihm aber tatsächlich als Gegenstand nicht zukommt. Die Ware hat einen Fetischcharakter, weil ihr eben auch eine Macht zugesprochen wird, die sie als einfaches Warending mitnichten hat. Diese Macht erscheint eben als Natureigenschaft der Ware, obwohl sie ja eine „gesellschaftliche“ Bedeutung hat (und insofern erscheint die warenproduzierende Gesellschaft überhaupt als Naturverhältnis): wir „glauben“ an die Ware, weil wir an die Ware glauben müssen. Das ist Ideologie als notwendig falsches Bewusstsein. Dieser Fetischismus spiegelte sich übrigens in der klassischen Arbeiterbewegung, die die Arbeit verherrlichte. – Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ändert sich nun, spätestens in den zwanziger Jahren, der Fetischcharakter der Ware: er wird mit der Ausweitung der Industriegesellschaft zur Konsumgesellschaft allgemein. Das heißt die Ware wird nun nicht nur als Produktionsresultat im Produktionsverhältnis fetischisiert, sondern als konsumistischer Alltagsgegenstand. Und das bezeichnet Kulturindustrie – insofern mache ich übrigens auch keine Trennung zwischen Kulturindustrie (als Produktionssektor) und dem Rest der Gesellschaft – die Tendenz der Kulturindustrie ist, dass die gesamte Gesellschaft Kulturindustrie wird, nämlich dass eine Kultur hergestellt wird, oder letztendlich auch Verhaltensweisen, Räume und gesellschaftliche Räume und Orte und Situationen hergestellt werden, die von vorn herein warenförmig erzeugt sind und auch nur funktionieren, weil sie warenförmig sind, weil sie auf irgendeine Art und Weise im Warentauschverhältnis hängen bleiben und dieses als gesellschaftliche Gesamtstruktur permanent reproduzieren.

Insofern gibt es kein Außen, in der „total verwalteten Welt“ ist der „Verblendungszusammenhang universell“. Und das betrifft nun auch „die Kunst“. Unter Bedingungen der Kulturindustrie hat sich doch gewissermaßen materialistisch bestätigt, was Hegel idealistisch postulierte: Ein Ende der Kunst. Dieses „Ende der Kunst“ beginnt paradoxerweise mit der Formierung der künstlerischen Moderne – und zwar mit der Moderne als soziales Verhältnis. Die Massenkultur, die im neunzehnten Jahrhundert entsteht, schafft zugleich auch den institutionellen Rahmen des Kunstbetriebs – also Museen, Konzerthäuser, Galerien etc. entstehen. Das konstituiert die Moderne als Moderne, einschließlich des Autonomieanspruchs der Kunst, der Verabsolutierung des Werkes, des Kultes um das Genie und die Virtuosität, die Idee der Künstlerästhetik mit den ersten Manifesten (Courbet, das so genannte Realismus-Manifest) und so weiter. In einem produktiven, um nicht zu sagen: revolutionären Wechselverhältnis mit gesellschaftlichen Umbruchsprozessen kommt es um neunzehnhundert zur Doppelbewegung von künstlerischen und politischen Avantgarden. Bestimmt werden diese Entwicklungen in der Kunst aber keineswegs allein über einen Kunstdiskurs, vielmehr sind sie nun – wir sprechen ja von der bildenden Kunst als freier Kunst – über einen Markt, auf dem sich auch die Künstlerin und der Künstler als Produzent behaupten, und das heißt: verkaufen muss. Gleichzeitig wird die Kunst, werden die Künste gesellschaftlich isoliert und integriert: die Menschen werden an die Kunst – sei sie auch noch so skandalös – gewöhnt, indem sie buchstäblich ausgestellt wird. Man kann sagen: das MoMA in New York ist eine Agentur der Kulturindustrie.

Aber mehr noch: Mit der Ausweitung der Kulturindustrie entsteht aus der Moderne die Gegenwartskunst, also das, was im Englischen „contemporary art“ heißt. War die Moderne noch einen ästhetisch spezifischen Epochenbegriff, so bezeichnet Gegenwartskunst nichts spezifisch Ästhetisches mehr, sondern nur noch ein Marktsegment, um eine Überlegung von Kerstin Stakemeier aufzugreifen. Auch Kunst ist heute ausschließlich Ware, auch die politische oder soziale Kunst muss, um als solche anerkannt zu werden, über das Marktsegment „Gegenwartskunst“ in die Diskurse eingespeist werden. Um nun auf Deine Frage endlich zu antworten: Perfider Weise verdoppelt sich unter den Bedingungen der Kulturindustrie der Fetischcharakter der Ware Kunst – hinzu zum ökonomisch-konsumistischen Warenfetisch kommt jetzt der fetischisierte ästhetische Schein, wird der Kunst also als Kunst noch über ihre Warenförmigkeit hinaus eine Macht zugesprochen, nämlich die Macht der Ästhetik: das – vermeintliche – Vermögen der Kunst, das Leben zu ästhetisieren, also ästhetisch zu verbessern … Und das gilt auch für politisch engagierte Kunst.

Krenn: Im Kunstbetrieb gibt es unterschiedliche Interessenslagen. Auch politisch engagierte Kunst ist gefragt, allerdings nur solange der „Markt“ nicht gesättigt ist. Mit steigender Nachfrage entstehen Konkurrenz-Verhältnisse innerhalb des politisierten Kunst-Feldes. Die eigene Praxis, auch wenn sie marktkritisch intendiert ist, läuft Gefahr, selbst zur Ware fetischisiert zu werden. Da ist die Frage, wie man sich verhalten soll, um das zu verhindern und wie kann man den Konkurrenzverhältnissen im eigenen Feld begegnen? Kann man diese Problematik mit Hilfe der Kritischen Theorie analysieren und inwieweit spielt der Begriff der Kulturindustrie hier hinein?

Behrens: Strukturell wird das, was gewissenermaßen auf der Ebene der Vergesellschaftung stattfindet, von der künstlerischen Produktion permanent strukturell ausgeblendet. Es gibt eine Trennung zwischen einerseits der Idee und Vorstellung künstlerischer Praxis und andererseits der realen künstlerischen Produktion. Künstlerische Praxis ist etwas, das ich unter Umständen an der Akademie gelernt habe, etwas, dass in Diskursen oder als Diskurs etabliert ist, kanonisiert ist, als eine Form von Herstellung von Bildern, Objekten, Situationen und so weiter. Damit bin ich aber noch nicht auf der Ebene der gesellschaftlichen Produktion; also: damit ist noch nicht klar, wie und womit ich meine Miete zahle. Das heißt wenn ich mich als Künstler thematisiere, thematisiere ich mich immer schon im künstlerischen Feld und nur sehr selten als Produzent innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse im Arbeitsbereich „Kunst“. Die Trennung zwischen künstlerischer Praxis und künstlerischer Produktion ist nur schwer zu überwinden, obwohl sie ja eigentlich von den meisten, die künstlerisch tätig sind, permanent reproduziert und auch erfahren wird. Schließlich entscheiden die Produktionsverhältnisse über die finanziellen Verfügbarkeiten und Verbindlichkeiten – und nicht, abstrakt, die künstlerische Praxis.

Hier spiegelt sich im Kunstbetrieb die allgemeine Kulturindustrialisierung des Lebens, also im Prinzip das, was ich eben nach Stakemeiers Vorschlag mit der Verschiebung von der Moderne zur Gegenwartskunst beschrieben habe. Auch die politische Kunst folgt dieser Logik der Kulturindustrialisierung. Denn: Von einigen wenigen Vorstößen der russischen Avantgarden und sehr marginaler, versprengter Interventionen abgesehen, bedeutet „politische Kunst“ eine künstlerische Praxis – und eben nicht Kritik der Produktionsverhältnisse, von denen eine künstlerische Praxis abhängig ist. So wird das auch durch den Museumsbetrieb kolportiert, und so wird es auch an den Akademien und Hochschulen gelehrt. Damit ist aber politische Kunst paradox unpolitisch, weil sie sich selbst von den – eigenen – politischen Verhältnisse, also den Produktionsverhältnisse, abzieht, diese ausspart und schließlich durch das Ästhetische sogar verdeckt. Mehr noch: das Ästhetische erscheint jetzt selbst als genuine Praxis der Kunst, als die eigentliche künstlerische Produktion und somit als das spezifische Feld des Politischen in der Kunst beziehungsweise als die Politik der Kunst. Das ist aber nichts weiter als die Verlängerung der Ästhetisierung der Politik durch die Kunst: also Ästhetik als Ideologie, d. i. notwendig falsches Bewusstsein. Die Kunst wird in die Gesellschaft integriert, die Menschen werden an die Kunst gewöhnt – Marcuse hat das in seinen Berichten über die NS-Gesellschaft für den U.S.-amerikanischen Geheimdienst Anfang der vierziger Jahre beschrieben; das korrespondiert mit der Kritik der Kulturindustrie, die Adorno und Horkheimer zeitgleich in der Dialektik der Aufklärung formulieren.

Insofern lässt sich sagen: die Kulturindustrialisierung der Gesellschaft bedeutet zugleich eine Entpolitisierung der Gesellschaft – aber paradox, weil mit dieser Kulturindustrialisierung (zumindest scheinbar) differenzierte Felder, Bereiche, Sparten und so weiter als Kultur etabliert werden, die gleichsam neue Formen des Politischen inszenieren, neue Formen der politischen Aufmerksamkeit generieren, die Gesellschaft insgesamt als politisches Spektakel repräsentieren. „Kultur“ wird damit zu einer Art Filmschicht, ein Überzug, mit dem die verwaltete Welt amalgamiert.

Die Kunst oder vielmehr die Künste haben hierbei als Segment der Kulturindustrie eine entscheidende Funktion, insofern sie dezidiert „kritische“, „reflektierte“, „gebildete“ Formen des Politischen hervorbringen. Aber tatsächlich sind auch das nur Images, die gar nicht so verschieden sind von der Trivialkultur, dem Boulevard, der Kolportage, dem ganzen Trash des Privatfernsehens: Was alle diese kulturindustrialisierten Formen des Politischen gemeinsam haben, ist nämlich, dass sie mit einer Kritik der politischen Ökonomie, also mit einer radikalen Kritik der Produktionsverhältnisse, der Verwertungs- und Kapitallogik nicht kompatibel sind – jedenfalls nicht, solange sie innerhalb des Systems operieren. Das Dilemma ist allerdings, dass dieses Feststecken dem System immanent ist, also als ein Teil der hermetischen Systematik selbst gefasst werden muss.

Diese hermetische Systematik ist das, was der Begriff der verwalteten Welt – er stammt vermutlich von Horkheimer und nicht von Adorno, obwohl Adorno ihn ja berühmt gemacht hat – bezeichnet. Was ist die verwaltete Welt? Die verwaltete Welt ist eine Welt, in der die Institutionalisierung, das heißt, nach Herbert Marcuses Formulierung von 1941, die „technologische Rationalisierung“ immer weiter fortschreitet, insofern nämlich die Politik beziehungsweise das Politische immer weiter aus den Institutionen herausgenommen wird. Das gilt nun nicht nur für den Bereich, der in der gegenwärtigen Gesellschaft faktisch für „die Politik“ reserviert ist, also das gesamte System des Parlamentarismus und damit verknüpften Behörden, sondern – gerade unter dem Vorzeichen einer umfassenden Kulturindustrialisierung, die sich im Namen der Popkultur vollzogen hat – sämtliche Lebensbereiche.

Das Leben in hoch technifizierten, demokratisch-verfassten Gesellschaften ist nur scheinbar durch eine politische Praxis der Partizipation gekennzeichnet; vielmehr ist das Leben, das gesellschaftliche wie das individuelle, durch Sachzwänge bestimmt, auf die allenthalben wiederum mit einer nachgerade zynischen Sachlichkeit reagiert wird – sofern den überhaupt reagiert wird und die Leute nicht passiv in ihren Meinungsblasen verharren. Ein Beispiel dafür sind die so genannten politischen Talkshows, etwa die Talkshow von Günter Jauch im ersten Programm des deutschen Fernsehens. Da gibt es jede Woche aktuelle Themen, vom Salafisten-Terror über die Euro-Krise inklusive immer wieder Griechenland bis hin zu Fragen der Krankenkassen- und Rentenversicherung. Es gibt verschiedene Gäste aus Wissenschaft, Politik und anderen Bereichen, die dann pro oder contra sich streiten dürfen. Es handelt sich allerdings um überhaupt keine politische Debatte mehr, sondern um eine Diskussion, die über autoritäres Gebaren, Betroffenheit, Befindlichkeiten und über das Abwägen von Schicksal und Charakter gesteuert wird. Es wird nicht politisch gehandelt, sondern ein Image von Politik verfestigt, dass eine allgemeine Ohnmacht, einen Zustand der Paralyse bestätigt.

Hier scheint nun die Kunst eine Alternative zu bieten, wenn seit einigen Jahren, wenn nicht mittlerweile Jahrzehnten hier wieder „das Politische“ stark gemacht wird: Das ging in den neunziger Jahren auf den Biennalen und Triennalen mit einigen Projekte los, mit „artistic research“, Kunst als Wissenschaft, Thesen über die Künstlerin und den Künstler als Experte für soziale Fragen, mit mitunter auch ganz klug gemachten Tarnprojekte, alleine auch um Gelder zu bekommen, was ja mehr als gerechtfertigt ist, die entsprechenden Töpfe auszuschöpfen: als Kunstprojekt getarnt ein Haus gestalten, das ein geschützter Ort für illegale Migranten ist, oder auch einfach nur irgendein Quatsch, der aber so gut finanziert ist, dass die Miete gezahlt werden kann. Die Politik bietet dabei ja ein ganzes Arsenal an Symbolen und Requisiten an, mit denen sich die Kunst entsprechend ausstaffieren kann und das meines Erachtens auch seit einiger Zeit erfolgreich macht – bis dahin, dass der Kunst dann regelrecht die Funktion des Politischen zugewiesen wird.

Krenn: Ich weiß nicht, ob man von einer Zuweisung von der Funktion des Politischen an die Kunst sprechen kann. Eine Kunst, die sich etwas radikaler kritisch zu Staat und Gesellschaft, sowie zum etablierten Kunstbetrieb positioniert, wird meiner Erfahrung nach bestenfalls geduldet. Die Gesellschaft aber auch der Kunstbetrieb bevorzugt Kunst, die sich nicht eindeutig politisch positioniert. Ich bin zumindest mit meiner politischen Praxis immer auf Widerstände gestoßen. Es war ein Weg in kleinen Schritten, bis es mir gelang meine Lebenssituation als „politischer Künstler“ einigermaßen zu stabilisieren. Der Verkauf von Kunst gestaltet sich so und so sehr schwierig, weshalb ich meine künstlerische Praxis auf die Arbeit an Schulen und Universitäten ausgedehnt habe. Ich glaube diese Situation hat sich bis heute nicht verändert, man sollte sich nicht von dem Erfolg einiger weniger dezitiert politisch und sozial engagierter KünstlerInnen täuschen lassen. Zudem sind die meisten sozial engagierten Projekte, wie sie auf diversen Biennalen in den 1990er erfolgreich gezeigt wurden, heute kaum mehr gefragt.
Mein erstes großes Projekt „Die neue Rechte – Materialien für die Demontage“ realisierte ich gemeinsam mit Oliver Ressler 1995 im öffentlichen Raum. Unsere Plakatserie richtete sich mittels einer Zitate-Montage gegen neurechte Ideologien. Damals gab es in Österreich für eine Kunst die politische Themen direkt anspricht nur wenig Verständnis. Es gab sogar Diskussionen darüber, ob man so etwas als Künstler überhaupt machen darf. Ein Vorschlag an uns war, das Gewicht der Druckfarbe der Buchstaben auf dem Plakat abzuwägen und in Verhältnis zur politischen Aussage, die auf dem Plakat steht, zu setzen. Erst dann könne man von Kunst sprechen.

Eine Gruppe, die in Österreich in den 1990er Jahren ebenfalls viel diskutiert wurde, war die Gruppe Wochenklausur. Die zentrale Forderung dieser Gruppe war, dass Kunst gesellschaftliches und soziales Engagement mit realer Veränderung verbinden solle. Das ist von vielen in der Wiener Szene belächelt worden, bis heute hat Wochenklausur, trotz beachtlicher internationaler Erfolge, kaum Bedeutung für den Wiener Kunstbetrieb.

Es gab eine Entwicklung in den 1990er Jahren, die zu einer Institutionalisierung sozial engagierter Kunst, aber auch zu einer Polarisierung in Bezug auf ihre Beurteilung führte, die auch heute noch existiert: Es formierten sich KünstlerInnen, AktivistInnen und TheoretikerInnen zu Kollektiven, um sozial engagierte und politische Projekte zu machen, damit einhergehend wuchs aber auch die GegnerInnenschaft, die ein solches Kunstverständnis grundsätzlich ablehnte. Kollektive und engagierte Kunst wurde von vielen als Gefahr für die Kunst und die ästhetische Autonomie empfunden. Die Fronten sind seither verhärtet: Auf der einen Seite entsteht eine gewisse Unbeweglichkeit im Feld der sozial engagierten und politischen Kunst, man beugt sich den Kriterien der „political correctness“, auf der anderen Seite spricht man solcher Kunst jegliche Form der Ästhetik ab. Kunst wäre dann erst wirklich politisch, wenn sie mit ästhetischen Mitteln den Betrachter schockieren könne. Ich denke aber, dass soziale und politische Kunst weder von der Sphäre des Ästhetischen, noch von jener der Moral, getrennt werden kann. Es würde mich interessieren, ob man in diesem Sinne etwa Adornos Konzeption von der Autonomie der Kunst in die heutige Situation übertragen könnte? Adornos Vorstellung von ästhetischer Autonomie bestand ja darin, dass sie außerhalb der gesellschaftlichen Sachzwänge, außerhalb der verwalteten Welt, einen Schein auf ein anderes Leben werfen könne. Was denkst du dazu?

Behrens: Zunächst noch einmal zur zugeschriebenen Funktion des Politischen in der Kunst. Wenn Du sagst, dass Arbeiten von Dir „zu politisch“ waren, um als politische Kunst, um überhaupt als Kunst akzeptiert zu werden, dann ist das doch genau der Punkt: Sobald mit der „Politik“ eine radikale Praxis verbunden ist, ist sie eben mit den Schematismen des Politischen, die toleriert werden, nicht mehr vereinbar: Man kommt gar nicht erst in den Betrieb rein, die Projekte bleiben sozusagen Privatvergnügen. Und wo Du die – auch künstlerischen – Aktionen gegen die Rechtsregierung in Österreich ansprichst: mittlerweile haben wir ja eine Entwicklung, wo genau diese Position von der Kunst sogar gefordert wird: dass Künstlerinnen, Theaterleute, Schriftsteller, Musikerinnen und so weiter sich gegen den Rechtspopulismus, gegen Pegida und Fremdenfeindlichkeit stellen – mit ihren Mitteln einer ästhetisierten Politik! Das passt ins Selbstbild der toleranten Gesellschaft, gerade in Bezug auf die ideologische Funktion, die in einer solchen Gesellschaft der Kunst zugewiesen wird. Einmal mehr: Vom Kapitalverhältnis, also von einer Kritik der politischen Ökonomie ist mitnichten die Rede.

Um das jetzt mit Adornos Autonomiekonzept zu verbinden: Bemerkenswerterweise hat ja die kritische Theorie nie ein offenes Bekenntnis der Kunst zur Politik gefordert – Adorno niemals und selbst Marcuse eigentlich nicht; auch Benjamins Rede von der Politisierung der Kunst muss unter anderen Vorzeichen, nämlich den Bedrohungen durch den faschistischen Terror in den dreißiger Jahren verstanden werden. Wir gehen ja davon aus, dass die irgendwie „politische“ Kunst eine „kritische“ Kunst ist, setzen also „Politik“ – womit selbstverständlich dann immer eine linke, wenn nicht linksradikale Position unterstellt wird – und „Kritik“ gleich. Allerdings: was im Sinne einer Ästhetik der kritischen Theorie die Kunst kritisch macht, hat mit Komposition, Material, Technik und so weiter zu tun, nicht mit einem „politischen Statement“. Und genau darauf zielt Adornos Konzept der Autonomie der Kunst beziehungsweise, genauer, der Kunstwerke.

Kunst heute wird zwar immer noch im Sinne der „Werkästhetik“ verstanden, doch das ist Ideologie, Teil des Spektakels des Kunstbetriebs. Gegenwartskunst, auch die innerhalb der Gegenwartskunst operierende „politische“ Kunst kann gar nicht mehr „Werke“ hervorbringen; Kunstwerke sind keine Kunstwerke mehr. Adorno geht jedoch weiterhin von Kunstwerken aus, weshalb er auch kaum etwas zur Gegenwartskunst sagt – im Wissen, dass das quasi schon die völlige „Entkunstung der Kunst“ ist.

Was heißt nun im Kontext der Autonomie des Kunstwerks, dass Kunst „kritisch“ ist? Das „kritische“ der Kunst ist ihr „Erkenntnischarakter“: sie macht eine „Wahrheit“ erkennbar.
In der Kunst ist diese Wahrheit eingeschlossen, kristallisiert im Werk – Adorno und Benjamin nennen das den „Zeitkern der Wahrheit“. Die Werke sind durchkomponiert, haben eine in sich immanente, inhärente, kohärente, konsistente Struktur. In diese Struktur ist nun der Zeitkern der Wahrheit eingelassen – „Zeitkern“ heißt übrigens, dass das Werk selbst historisch ist, aber auch historisch vergänglich: die Wahrheit läuft uns durchaus davon … Um diesen Zeitkern nun aufzusprengen, die Wahrheit zu erfassen, braucht es, wie Adorno sagt, die Möglichkeit unreglementierter Erfahrung.

Das Problem ist, dass in der Gegenwartskunst, die werkästhetisch nicht mehr zu fassen ist, dieser Zeitkern der Wahrheit auch verloren ist. Kunst ist heute allerhöchstens noch „autonom“ in Bezug auf ihre gesellschaftliche Funktion innerhalb der Institution. Alles, was wir an Erfahrungs- oder Erkenntnisbereitschaft an die Kunst heranbringen, um sie zu „verstehen“, gehört bereits zur pädagogischen Inszenierung der Kunst im Museum, in der Galerie, im Taschenbuch, im Fernsehbericht und so weiter.

Heute von Autonomie zu sprechen, auch im Sinne einer ästhetischen Bestimmung des „kritischen“ Gehalts der Kunst, hat meines Erachtens beinahe etwas Lächerliches: Wenn ich ein Projekt mache und das Ergebnis dieses Projektes ist ein Bus, der die medizinische Versorgung von Obdachlosen sicherstellt, dann ist das ein sehr wichtiges Projekt und es macht unter Umständen auch Sinn, es aus bestimmten Gründen als Kunst zu deklarieren, sei es um das zu finanzieren, sei es um weitere Projekte anzustoßen. Aber mit einer ästhetischen Dimension, die dieses Projekt als Kunst „kritisch“ macht, die hier „unreglementierte Erfahrungen“ ermöglicht, hat das nichts zu tun. Jetzt ist aber die Frage zu stellen: Ist das eigentlich schlimm?

Krenn: Ich denke die ästhetische Dimension ist sehr wohl kritisch bestimmbar, vielleicht nicht im Sinne Marcuses aber beispielsweise über den Begriff der „Dialogical Aesthetics“ von Grant Kester, den er in seiner 2004 erschienenen Publikation „Conversation Pieces“ entwickelt hat. Kester versucht genau solche künstlerische Projekte, wie jenes das du gerade beschrieben hast, theoretisch zu fundieren, den ästhetischen Gehalt aufzuspüren und damit solche Kunst innerhalb des Kunstdiskurses von anderer Kunst abzugrenzen. Man kann sich auch auf Nicolas Bourriauds Begriff der Relational Aesthetics (1998) beziehen, ich stehe diesem Konzept jedoch kritisch gegenüber, da es meiner Ansicht nach sozial engagierte Kunst entpolitisiert. Dennoch wird auch hier der Versuch unternommen eine ästhetische Dimension in der sozialen Kunst zu bestimmen. Ein Projekt, das im öffentlichen Raum/oder einer Kunstinstitution mit partizipatorischer Methoden gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen versucht, sollte von herkömmlichen Sozialprojekten unterschieden werden. Es steht schließlich in einer ganz anderen Tradition und bietet andere Möglichkeiten. Schon Anfang des 20 Jahrhundert haben die russischen Futuristen den öffentlichen Raums erkundet, sie griffen vor allem auf Mittel der Provokation zurück. Sergei Tretjakow hat schließlich eine auf Kooperation und Partizipation basierende Kunst in den 1920er und 1930er Jahren entwickelt. Es ist kein Zufall, dass Tretjakow dem sowjetischen Regime ein Dorn im Auge war und er schließlich 1937 hingerichtet wurde. Er widersetzte sich letztlich der Parteilogik. Auch Sozial-Projekte wie jene von Wochenklausur haben eine ästhetische Dimension, die sich beispielsweise anhand der Begegnungsräume zeigt, welche sie für DisputantInnen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen schaffen, um Lösungen für konkrete lokale Probleme zu erarbeiten.

Behrens: Aber wofür ist das notwendig, politische und soziale Projekte als künstlerische Praxis zu deklarieren?

Krenn: Das ist deshalb notwendig, damit das Label „politische“, „sozial engagierte“ oder „partizipatorische Kunst“ nicht für jede Form von Kunst verwendet werden kann. Es ist sicher richtig, dass bis zu einem gewissen Grad jedes Kunstprojekt politisch ist, das heißt aber noch nicht, dass jedes Projekt über solidarische und emanzipatorische und ästhetische Potentiale verfügt. Deshalb ist es wichtig Kriterien zu finden, welche zur Beurteilung des Politischen in der Kunst eine Orientierungshilfe darstellen. Das hilft auch politisch engagierten KünstlerInnen und KuratorInnen sich von pseudo-politischen und pseudo-sozialen Kunstprojekten abzugrenzen. Aber neben der diskursiven, muss auch eine materielle Basis geschaffen werden, um überhaupt sozial engagierte Kunstprojekte adäquat realisieren und umsetzen zu können. Darunter würde ich verstehen, dass die Projekte mit ausreichender Infrastruktur und finanziellen Mitteln ausgestattet sind, damit sie adäquat umgesetzt werden können. Wenn ich beispielsweise ein Projekt mit Lehrlingen zur NS-Zeit mache, dann braucht es die nötigen Produktionsgrundlagen, ausreichendes Budget und Zeit, damit man den hohen Anforderungen gerecht werden kann. Ansonsten kann ein solches Projekt mehr Schaden anrichten als es Nutzen bringt. Also es geht auch darum eine angemessene gesellschaftliche Wertschätzung für Kunst zu schaffen, die sich dem Kunstmarkt entziehen und zwischen dem Kunstfeld und der Gesellschaft agieren bzw. vermitteln.

Behrens: Aber diese Projekte realisieren sich ja aufgrund eines Missstandes, der ideologisch durch andere, sagen wir, „kulturelle Verfahren“ nicht mehr aufgefangen werden kann. Solche Projekte bleiben von vornherein in einer prekären, defensiven Position.

Krenn: Meinst du damit, dass sie lediglich auf einen bestimmten Missstand reagieren würden? Sprichst du den Verlust des Utopischen an?

Behrens: Ja, es geht auch um den Verlust des Utopischen. Das Utopische ist eine offene Position; sie verlangt Aktivität, Praxis. Dagegen zeigen sich in der heutigen Kunst oft Tendenzen, sich zu bescheiden: Kunst reagiert, jedenfalls gibt es keine radikale transzendierende oder transzendente Position. Gerade die heute „politisch“ auftretende Kunst reagiert häufig bloß auf Missstände, bleibt in ihrem politischen Anspruch defensiv (auch wenn sie sich vielleicht ästhetisch, mit künstlerischen oder außerkünstlerischen Mitteln als offensiv zu inszenieren vermag). Für eine politisch offensive Kraft der Kunst braucht es, dialektisch, eine Antipolitik, also ein politisches Konzept, dass die herrschende Politik wie die Politik der Herrschaft überschreitet beziehungsweise transzendiert. Mit anderen Worten gesagt, muss die Kunst eben eine Kraft wiedererlangen, die sie das letzte Mal zu Zeiten der klassischen Avantgarde-Bewegungen hatte, nämlich die Kraft, die Immanenz der Verhältnisse zu sprengen oder aufzubrechen. Was also heute verschwunden ist, in der Kunst wie überhaupt in den kritischen, emanzipatorischen Bewegungen, ist die Utopie. Und diese Utopie hat, gerade in der Kunst, einiges zu tun mit dem bereits erwähnten Topos: Glück! – Solche Utopie war früher in der Kunst werkästhetisch eingefasst. Das geht heute nicht mehr. Die Zeiten, in denen der Kunst als Werk etwas Utopisches abzuringen war, sind ein für allemal vorüber. Erst recht eine materialistische Ästhetik kann daran nur noch negativ anschließen, und das heißt auch negatorisch, aber im Sinne der bestimmten Negation. Hier kommen dann auch die kritischen Theoretiker mit ihren Konzepten von Ästhetik an ihre Grenzen …

Krenn: Wobei zum Beispiel Heinz Paetzold die Werkbegriffe Adornos, Benjamins, Marcuses und Blochs im Sinne einer materialistischen Ästhetik auf die konzeptionelle Kunst erweitert hat …

Behrens: Paetzold hat eine solche Erweiterung des Werkbegriffs zunächst in seiner 1974 erschienenen Neomarxistische Ästhetik vorgeschlagen, und zwar vor allem mit Blick auf die ästhetische Theorie Marcuses, die zwar in ihren Grundzügen eng an Adornos ästhetische Theorie angelegt ist, aber in der Auseinandersetzung mit Teilen der U.S.-amerikanischen subversiven, radikalen Kunst – die Chicagoer Surrealistengruppe, Rock- und Subkultur der Protestbewegung der Sechziger, Living Theatre etc. – abweicht: Wie auch in seiner kritischen Philosophie akzentuiert Marcuse eine Erweiterung der ästhetischen Theorie durch die Praxis, in der Praxis, ja als Praxis. Diese Überlegungen, die mit der spezifischen Situation der Kunst und der Künste in den 1960er und 1970er Jahren zu tun haben – in dieser Zeit verfestigt sich ja die Gegenwartskunst im Kulturbetrieb und überhaupt gesellschaftlich als Sensation, als Spektakel, schließlich als Ideologie –, hat Paetzold dann einerseits mit einem Rückgriff auf die Ästhetik des deutschen Idealismus, andererseits im Nachvollzug der nachavantgardistischen Kunst in postmoderner Perspektive mit seinem Buch „Profile der Ästhetik“ von 1990 fortgesetzt. Dabei interessierte sich Paetzold für alles von Raimer Jochims bis Laibach und das Kollektiv NSK, und das heißt, er hat die Möglichkeiten eines erweiterten Werkbegriffs nicht nur in der konzeptionellen Kunst gesehen, sondern auch in Kunstformen, die er mit diesem erweiterten Werkbegriff konzeptionell verstanden hat. Allerdings: auch wenn Paetzold hier – mit Marcuse – sich an der Kunstpraxis orientiert, so geht es ihm doch vor allem um dezidiert ästhetische Aspekte der Leib- und Wahrnehmungsphänomenologie beziehungsweise der Ästhesiologie. Das ist ein höchst sympathischer Ansatz, gleichwohl fürchte ich, dass Paetzold hier die Möglichkeiten der konzeptionellen Kunst vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Bedingungen und Funktion von Kunst überschätzt hat. Insofern meine ich, dass sich der Werkbegriff nicht auf die konzeptionelle Kunst ausdehnen lässt.

Krenn: Warum kann man diesen Werkbegriff nicht auf die konzeptionelle Kunst ausdehnen?

Behrens: Wenn Paetzold von konzeptioneller Kunst spricht, rekurriert er auf einen Begriff von Apollinaire, mit dem sich schließlich die klassische Moderne von de Stijl über Duchamp bis Mondrian, Klee oder Albers umfassen lässt auf. Konzeptionelle Kunst bestimmt PAetzold dabei wesentlich als „Theorieform“, nämlich „die Künstlerästhetik“. Sie zielt auf die „theoretisch formulierbare Bewusstheit der bildnerischen Elementardaten“, zudem „die Durchdringung der künstlerischen Arbeit mittels theoretischer Reflexion“ und das, was Paetzold mit Goethe „exakte sinnliche Phantasie“ nennt. Damit haben wir einen Begriff konzeptioneller Kunst sowie überdies auch durch diese konzeptionelle Kunst erweiterten Werkbegriff, der ästhetisch immanent bleibt, also den Bereich der Kunst sowohl theoretisch als auch praktisch nicht überschreitet. – Das bedeutet allerdings, dass noch immer, wie schon bei Adorno, die Ästhetik, auch die politische Ästhetik oder überhaupt das Politische, das als Kunst mit ästhetischen Mitteln konzeptualisiert ist, mit dem Werkbegriff steht oder fällt. Insofern lässt sich die Werkästhetik auch nur ästhetisch-theoretisch immanent retten – bei Adorno gibt es die Formulierung, dass nur noch die Werke eben Werke sind, die keine Werke mehr sind. Solche Paradoxien, die ohne Frage ästhetisch verstanden äußerst radikal – auch im politischen Sinne – sein können, bleiben allerdings den gesellschaftlichen Verhältnissen sowie den gesellschaftlichen Eingriffsmöglichkeiten der Kunst gegenüber völlig disparat: Den gesellschaftlich werden auch die radikalsten Werke als Unterhaltung rezipiert, sind erbaulich, Freizeitvergnügen, jedenfalls gegenwärtig kein Werkzeug einer Gesellschaft verändernden Praxis.

Krenn: (Wir haben über Walter Benjamin und seine Forderung nach einer Politisierung der Kunst gesprochen.) Ist es bei Walter Benjamin anders … ?

Behrens: Auch Benjamin argumentiert mit einem Werkbegriff, der allerdings wesentlich strategischer und niedrigschwelliger eingeführt ist als Adornos Werkbegriff. – Und es scheint irgendwie auch das Verlagen zu geben, Benjamins Kunsttheorie gleichsam werkästhetisch zu interpretieren; die akademische Benjaminrezeption kapriziert sich ja immer wieder auf die These vom „Verlust der Aura“, die Benjamin im Reproduktionsaufsatz formuliert. Ob das, was Benjamin „Aura“ nennt, also wenn man so will: „das Kunstwerk“ im emphatischen Sinne nun verschwunden ist oder nicht, scheint mir angesichts der Kritik – und das ist eine Gesellschaftskritik –, in die Benjamin seine Überlegungen einbettet, sekundär zu sein, nämlich eine rein scholastische Frage, die höchstens für den Kunstbetrieb relevant ist. Die Forderungen, die Benjamin in seinem Essay von 1936 stellt, vor allem die Beschlussforderung nach einer Politisierung der Kunst, sind nur dahingehend eine Verteidigung der Kunst, als dass Benjamin seine Untersuchungen zum „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ insgesamt unter das Vorzeichen einer antifaschistischen Theorie und Praxis stellt; es heißt bei Benjamin im „Vorwort“ zum Reproduktionsessay: „Die im folgenden neu in die Kunsttheorie eingeführten Begriffe unterscheiden sich von geläufigeren dadurch, dass sie für die Zwecke des Faschismus vollkommen unbrauchbar sind. Dagegen sind sie zur Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik brauchbar.“ Also: Kunstpolitik, nicht Politik der Kunst! Im Kontext der dreißiger Jahre ist das unbedingt: die angesichts des faschistischen Terrors dringliche Frage, ob und wie sich mit der Kunst und mit den Künsten der reale Humanismus, die wirkliche Bewegung, und das ist: der Kommunismus verteidigen lässt – im Namen der Utopie des befreiten Menschen.

Mithin: Benjamin beschäftigt sich in seinem Essay nicht mit den Angriffen des Faschismus gegen die Kunst, mit der reaktionären Demontage der Avantgarde, mit der Vereinnahmung der Kunst für nationalsozialistische Zwecke (darüber hat übrigens, bezogen auf Musik, Adorno in einem nur wenig beachteten Beitrag geschrieben, der in zwei Fassungen vorliegt: „What National Socialism has done to the Arts“ und „The musical Climate for Fascism in Germany“). Was Benjamin vielmehr unternimmt, ist eben eine kritisch-historische Rekonstruktion der technischen Bedingungen von Kunst, ihrer Produktion wie Rezeption; diese technischen Bedingungen sind selbst schon abhängig und durchsetzt von der Gesellschaft und müssen demnach, ebenso wie die Kunst selbst, als soziales Verhältnis verstanden werden. Die möglichen und wirklichen Wechselverhältnisse zwischen „Kunst“ und ihrer „technischen Reproduzierbarkeit“ diskutiert Benjamin schließlich unter politischen Gesichtspunkten.

Benjamin orientiert sich dabei an einem emphatischen Verständnis von „Kunst“, also eben am „Kunstwerk“; so ist es für ihn keine Frage, auch den Film oder Rundfunk als Kunstform zu begreifen. Das ist aber für Benjamin nicht ästhetisch relevant, sondern politisch. Ästhetisch hatte Benjamin zum Beispiel den Film als Design und nicht als Kunstform fassen müssen, nämlich ganz im Sinne einer „Ästhetisierung der Politik“. Das ist es ja, was Benjamin mit der These vom Verlust der Aura andeutet: die Integration der Kunst in die Gesellschaft als bloße Gestaltung. Ihn interessiert aber der Surrealismus und Charlie Chaplin mehr als das Bauhaus und die Plakattypografie der damaligen Zeit.

Gerade in der Auseinandersetzung und Aktualisierungsdebatte über Benjamins Forderung nach einer Politisierung der Kunst müsste dieser Zusammenhang von Gesellschaft, Kunst und Design stärker berücksichtigt werden. Die Frage wäre, ob sich Kunst nicht sowieso in diverse Formen von, wie es damals so hieß, Gebrauchskunst aufgelöst hat und Bestandteil des kulturindustriellen Designs geworden ist. Für die Beantwortung und allein auch schon Formulierung dieser Frage scheint es mit wenig hilfreich zu sein, sich auf das Ästhetische zu beschränken, eine neue Ästhetik zu entwerfen oder die Ästhetik zu Ästhetiken zu pluralisieren. Das ist billiger Akademismus, weltfern und politisch stumpf.

Gleichwohl ist es aber wichtig, auf die politische Bedeutung der, wie Marcuse es nennt, „ästhetische Dimension“ zu insistieren: in der Kunst und über die Kunst hinaus. Bei prominenten Projekten politischer Kunst ist diese ästhetische Dimension bereits weggebrochen oder nur in sehr verkümmerter Form ausgestaltet; so habe ich zum Beispiel bei dem Hamburger Projekt Park Fiction nach wie vor den Eindruck, dass dieses Projekt – bei all der politischen Notwendigkeit und Berechtigung, die es hat, und trotz der vielen klugen und inspirierenden Ideen, die damit verbunden sind –, dass also dieses Projekt eigentlich ohne ästhetische Dimension, und das heißt ohne ästhetische Utopie realisiert worden ist.

Krenn: Meist du: Realisiert ohne ästhetische Utopie, oder steht es als Werk ohne ästhetische Utopie da? Wenn man den Ort besucht, befindet man sich doch in einem Kunstwerk, in dem eine kollektive Wunschproduktion „materialisiert“ wurde.

Behrens: Ehrlich gesagt: Ich befinde mich da nicht in einem Kunstwerk. Wir reden jetzt von der Balkonterasse und dem gestalteten Bereich, ja?

Krenn: Die Palmen, usw. Dem Platz würdest du ästhetisches Potenzial absprechen?

Behrens: Es geht mir nicht darum, etwas abzusprechen: Wenn Leute sich an dem Ort wohlfühlen und das, was sie da erleben, mit Konzepten von „Ästhetik“ und „Kunst“ verbinden, ist das doch völlig okay! Das ist aber eben auch das Problem, gerade für politische Kunstprojekte wie Park Fiction: Ob es sich hierbei um Kunst handelt oder nicht, ist von bestimmten Diskursen abhängig und diese Diskurse sind Teil der herrschenden Verhältnisse, Teil der Struktur, die man zugleich durch- oder aufbrechen möchte. Es gibt hier keine objektivierbaren Strategien, das Ästhetische, wie radikal und subversiv es immer auch gemeint sein mag, bleibt letztendlich subjektiv. Das ist an sich noch kein Problem, sondern eher eine tragende Leitfigur der Ästhetik der Moderne: dass ästhetische Urteile über Kunst auch subjektiv sind; zum Problem wird das, und zwar zum Problem für die Kunst in Bezug auf ihre gesellschaftliche Kraft – sei’s Sprengkraft oder Bindungskraft –, wenn nun jedes ästhetische Urteil gleichsam im Subjektivismus stecken bleibt und darüberhinaus sich eben auch nicht über solche ästhetischen Urteile eine subjektive Allgemeinheit herstellen lässt, wie es Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ postulierte. Anders gesagt: das ästhetische Potenzial ist ja kein quantifizierbarer Maßstab, den ich mit meinem Adorno-Ästhetik-Messgerät ermitteln kann. Es geht mir nur darum, dass hier nicht objektiv das Ästhetische irgendwo, ich sag das jetzt etwas abfällig, in einer von den Stahlpalmen steckt. Das ist aber schlussendlich weniger ein Problem von Park Fiction als vielmehr den Bedingungen geschuldet, unter denen etwa ein Projekt wie Park Fiction überhaupt realisiert werden konnte.

Krenn: Ich glaube ich verstehe was du meinst, also letztlich gibt es eine gewisse Beschränkung der ästhetischen Möglichkeiten bei der Arbeit an einem Werk, in dem Moment wo du es kollektiv so umsetzt, wie z.B. bei Park Fiction.

Behrens: Ja, eine Beschränkung allerdings, die in der Natur der Sache liegt, wenn man so will: In der zweiten Natur einer Sache, die man mit der ersten Natur verwechselt. Das heißt: selbstverständlich ist auch die Kunst von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig (und konstituiert gleichzeitig diese gesellschaftlichen Bedingungen); aber: immer wieder wird der Kunst ein substanzielles, ontologisches oder essentialistisches Moment zugesprochen. Die Gegenwartskunst ist voll mit solchen Phantasmagorien; Joseph Beuys ist dafür immer noch das prominenteste Beispiel. Heute finden sich solche Phantasmagorien etwa mit dem Modewort „Kreativität“ verkleidet, oder eben der nach wie vor verbreiteten trivial-beuysschen Vorstellung, dass jeder Mensch Künstler sei. Was ich also moniere, ist, dass die Kunst, auch die politische Kunst, aus der Immanenz nicht herauskommt (obwohl die politische Kunst an eine Politik anknüpft, die vorgibt, mit dem Muster der Repräsentationspolitik gebrochen zu haben – dass das allerdings ziemlich in die eigene Tasche gelogen ist, wäre mithin eine größere Diskussion, die uns hier zu weit führt). Also die Kunst, und noch einmal: auch die politische Kunst bleibt in einer Ästhetisierung hängen, die eine unheimliche Gravitationskraft entwickelt hat und alle Transzendenz vereitelt; überdies – und das ist entscheidend – wird allenthalben proklamiert, dass diese Ästhetisierung, dass überhaupt der Ästhetizismus der Gegenwartskunst eine „transzendierende Kraft“ sei … Und das ist eben nicht die von Benjamin geforderte Politisierung der Kunst, sondern die bloße Umkehrung der Ästhetisierung der Politik zur Politisierung der Ästhetik – mit künstlerischen Mitteln. Was also herauskommt, ist eine Ästhetisierung der Kunst, Design.

Ich will das kurz ausführen: Die Ästhetisierung der Politik, die betrieben wird – und die im Übrigen nur die Kehrseite von dem ist, was ich vorhin von der verwalteten Welt gesagt habe, nämlich, dass die Politik aus der Gesellschaft rausgezogen wird und stattdessen eben ästhetisch überpinselt wird –, diese Ästhetisierung der Politik ist nicht rückgängig zu machen. Sie ist keineswegs nur ein Phänomen faschistischer Gesellschaften, ganz im Gegenteil: Für demokratische Gesellschaften oder korrekt gesagt: demokratisch verfasste Gesellschaften ist die Ästhetisierung der Politik nachgerade für das „Image“ der Demokratie konstitutiv. Und zur Erzeugung wie Aufrechterhaltung dieses Images gehört heute insbesondere die Kunst – als Gegenwartskunst.

Ästhetisierung der Politik unter demokratischen Bedingungen heißt heute etwa, dass die Idee öffentlicher Räume aufrecht erhält. Ob diese Räume dann faktisch öffentlich sind oder nur als „öffentlich“ deklariert werden, sei dahingestellt. Politische Kunst kapriziert sich nun gerne auf solche „Besetzungen“ oder „Aneignungen“ oder „Reclaiming“ der Öffentlichkeit; ich meine, ich liege nicht falsch, wenn ich sage, dass das auch für das Projekt Park Fiction gilt. Eine solche Ästhetisierung führt dazu, dass die Immanenz nur noch mehr verdichtet wird; das Ästhetische wird zum Filter, durch den die Kunst überhaupt erst als Kunst wahrnehmbar ist. Und zwar wahrnehmbar auch in ihren – zweifellos hehren – politischen Absichten. Genau das ist ja die alte Dialektik des Ästhetischen, des Scheins. Denn zugleich und ohne den Blick durch den Filter ist das Areal von Park Fiction ein schöner Ort zum Sitzen, ein ästhetisierter Raum …

Krenn: … zugespitzt formuliert also: eine touristische Attraktion?

Behrens: Zugespitzt: ja! „Die Wünsche werden die Wohnung verlassen und auf die Straße gehen.“ Das ist ein guter Satz, voller emanzipatorischer Energie. Ernüchternd allerdings die Erkenntnis, dass die Wünsche mittlerweile auch wieder von der Straße weg sind, weiterverarbeitet vom Feuilleton und den Agenturen des Stadtmarketings.

Krenn: Park Fiction ist auch ein symbolischer Ort des Widerstands. Es finden immer wieder politische Veranstaltungen, Screening usw. statt. In dem von dir beschriebenen Dilemma befindet man sich eigentlich immer, sobald man in der Gesellschaft etwas verändern will und etwas umsetzt.

Behrens: Nein, in dem Dilemma befindet man sich nur dann, wenn der Bereich des Künstlerischen und weiter gefasst: des Kreativen zur Avantgarde sozialer Bewegung verklärt oder schlechterdings mit der sozialen Bewegung gleichgesetzt wird. Auch hier liegt das Problem, wie vorhin gesagt, auch in der Natur der Sache. Auch ein sehr wichtiges und gutes Projekt wie Park Fiction droht, sich in dem Dilemma zu verfangen, wenn es nicht mehr der Versuch ist, Politik mit künstlerischen Mitteln zu machen oder Politik mit einer künstlerischen Praxis zu verbinden, sondern die künstlerische Praxis gewissermaßen das Politische aufsaugt. Das Politische wird damit tendenziell absorbiert und neutralisiert. Und das dezidierte Kunst-Projekt Park Fiction kann dann auch ohne Politik als stadtplanerisches Konzept übernommen werden. Zum Beispiel hat man bei den Magellan-Terrassen in der Hamburger HafenCity den Eindruck, die wollten ein bisschen von Park Fiction lernen. Freilich übernehmen die eine Strategie unter ganz anderen Gesichtspunkten, nämlich genau unter jenen des verwalteten, warenförmigen, durchkapitalisierten Raumes. Auch hier haben ja die Wünsche die Wohnungen oder besser: Planungsbüros verlassen und sind auf die Straße gegangen …

Krenn: Ich würde aber dennoch den Begriff der Ästhetik in der sozial und politisch engagierten Kunst nicht aufgeben, auch wenn hier keine traditionellen Kunstwerke mehr geschaffen werden. Die ästhetischen Konzepte der Kritischen Theorie sind zwar am Werk orientiert und natürlich lässt sich Adornos ästhetische Theorie nicht eins zu eins auf die heutige Kunst übertragen, aber Walter Benjamin führt etwa in Der Autor als Produzent (1934) als Beispiel Sergei Tretjakows an, und entwickelt daraus ein Verständnis von Kunst und Ästhetik, das sich vom traditionellen Werkbegriff löst. Sergei Tretjakow hat übrigens bereits in den 1930er Jahren ein Zeitungsprojekt gemacht, welches heute unter den Begriff Partizipatorische Kunst fallen würde. Er forderte die LeserInnen einer sowjetischen Jugendzeitschrift auf, ihre Taschen zu lehren und über jedes Krümelchen, das auf dem Tisch liegt, zu schreiben. Dadurch würden ihre Lebensbedingungen auf ganz andere Art und Weise beschrieben werden, als dies eine herkömmliche Ich-Erzählung leisten könnte. Aus den Erzählungen der LeserInnen sollte ein großer „partizipatorischer“ Roman entstehen. Ich sehe in einem solchen Projekt sowohl ein dialogisches als auch ein ästhetisches Potential, welches neue Möglichkeiten in der Kunst eröffnet.

Behrens: Wenn es heute gelänge, ein solches – und das hört sich ja fast nach Martin Buber an! – dialogisches ästhetisches Potenzial wieder herzustellen, wäre das in der Tat ein Durchbrechen der Immanenz, eine Reaktivierung der konkreten Utopie. Nur über einen Dialog – also nicht über die fetischisierten Formen so genannter Kommunikation – ließe sich das Ästhetische als eine kollektive Erfahrung gewinnen. Übrigens hat Benjamin so etwas mit Blick auf eine, wenn man das so sagen darf, messianische Kosmologie zum Schluss seiner Einbahnstraße von 1928 unter dem Titel „Zum Planetarium“ anvisiert. – Vorerst bleibt das Ästhetische als unreglementierte Erfahrungen allerdings individuell, und als individuelle Erfahrung des Ästhetischen wiederum an das Kunstwerk gebunden. Doch die Tage der Werkästhetik sind längst gezählt, die gegenwärtige Kunst, also die Gegenwartskunst ist eine Kunst nach der Kunst. Wenn sie neue Perspektiven auf die Möglichkeit einer befreiten Gesellschaft eröffnet, dann nur sporadisch und individuell. Und das ist dialogisch unter den gegebenen Bedingungen sozialer Verhältnisse nicht vermittelbar, weder politisch noch ästhetisch.